Die Brüder Fürst    BRATIA FÜRST

 

Der Holocaust

Im Zug

Je näher der Zeitpunkt der Deportation rückte, desto detailiertere Instruktionen gaben uns unsere Eltern. Diese betrafen vor allem Verhaltensregeln für die verschiedensten Situationen. Sie beschlossen auch, dass wir alle vom fahrenden Zug springen sollten. Vater besorgte diverses Ausbruchswerkzeug – Sägen, Feilen, Schraubenzieher, Meißel – um eine Flucht zu ermöglichen. Mutter nähte diese in unsere Mäntel ein. Sie fütterte unsere Mäntel auch mit zusätzlicher Wattierung, sodass wir größer erscheinen sollten.

Vater betonte vor allem, dass wir schon während der ersten Nacht vom Zug springen müssten, bevor er die Slowakei verlassen und in Polen sein würde. Es wurde uns genau erklärt, wann wir wie springen sollten. Wir sollten uns direkt nach einem Oberleitungsmasten aus dem Zug werfen, sodass wir nicht durch den nächsten verletzt würden. Bei Bodenkontakt sollten wir uns wie ein Ball abrollen und dann sofort laufen.

Die genauen Pläne unserer Eltern gaben uns neue Kraft und erfüllten uns mit der Zuversicht, dass wir den finalen Bestimmungsort des Zuges nicht erreichen würden. Die genauen Anweisungen unseres Vaters bestärkten uns in dem Glauben, dass unsere Pläne von Erfolg gekrönt sein würden.

Am 2. November 1944 wurden wir in den Zug verladen. Fast neunzig Personen wurden in unseren Waggon gepfercht. Zum Hinsetzen war viel zu wenig Platz, wir waren alle gezwungen zu stehen. Die Schreie, das Weinen, das Gebrüll, die Wehklagen und der unerträgliche Gestank waren erdrückend.

Weil wir alle kaum Luft bekamen und keinen Platz hatten, waren die Bedingungen im Waggon für diejenigen, die noch eine Woche zuvor ein normales Leben in Freiheit geführt hatten und durch die Spezialpapiere geschützt waren, noch viel schlimmer.

Kurz vor unserer Abfahrt hatten wir Onkel Arpad eine Nachricht über unsere Abfahrtszeit von Sered zukommen lassen. Als die Fahrt begann, hofften wir daher immer noch, dass unser gewiefter und findiger Onkel einen Weg fände, uns zu befreien. Als der Zug im Bahnhof von Žilina stoppte, hörten wir jemanden unseren Namen rufen. Da es in den Waggons jedoch nur ein winzig kleines Fenster gab, konnten wir nicht sehen, ob es Onkel Arpad war oder ein von ihm geschickter Bote. Nach kurzem Aufenthalt setzte sich der Zug wieder in Bewegung und alle unsere Hoffnungen schwanden dahin. Stattdessen erfüllte eine neue Hoffnung unsere Herzen. Vielleicht würden die alliierten Truppen die Bahngleise nach Auschwitz bombardieren. Wir hofften einfach, dass irgendein Wunder geschehen würde.

Bei Einbruch der Nacht begann Vater, seine Werkzeuge für das Öffnen der Waggontüren hervorzuholen. Inzwischen war klar, dass es keinen anderen Weg aus dem Waggon gab. Er benötigte aber ein ganz spezielles Werkzeug, um das Schloss aufzubrechen. Einer im Waggon war ein Installateur und er hatte seine Werkzeugkiste dabei. Vater bat ihn nachzusehen, ob er nicht das richtige Werkzeug dabei hätte. Dadurch bekamen einige andere Wind von Vaters Fluchtplan. Eine laute und heftige Diskussion begann. Einige der jungen Männer unterstützen Vaters Ansinnen und wollten ihm sogar helfen. Aber die meisten anderen lehnten die Idee strikt ab und hinderten uns sogar daran, bis zur Tür zu kommen. Unter diesen Umständen mussten wir einsehen, dass wir unseren Plan nicht in die Tat umsetzen konnten. Um alle Risiken oder Verdächtigungen auszuschließen, warfen wir unsere Werkzeuge aus dem kleinen Fenster des Waggons. Unser Fluchversuch war gescheitert, bevor er begonnen hatte.

Die Fahrt ging weiter und weiter. Wir mussten nicht wirklich hungern, da wir genug Nahrung mitgenommen hatten. Die Bedingungen wurden dennoch immer unerträglicher. Die Menschen mussten ihre Notdurft auf den Boden des Waggons verrichten und der Gestank war unvorstellbar.

Nach ungefähr eineinhalb Tagen hielt der Zug an. Die Türen wurden geöffnet. Einige Namen wurden aufgerufen und Menschen aus dem Zug geholt. Wir hatten keine Ahnung, wer sie waren und warum sie aufgerufen worden waren. Die Türen wurden hinter ihnen wieder zugeschoben und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Als wir in Birkenau angekommen waren, wurde uns befohlen all unsere Habe im Waggon zu lassen und auszusteigen.