Die Brüder Fürst    BRATIA FÜRST

 

Kindheit und Krieg

Flucht nach Piešťany

Wir brachen nach Piešťany auf, voll der Hoffnung, dass wir dort einen Ort der Erholung und der Zuflucht finden würden. Aals wir in der Stadt ankamen, mussten wir erkennen, dass die Lage dort fürchterlich war. Die ganze Stadt war von den Deutschen besetzt. Genau genommen waren wir direkt in der Höhle des Löwen gelandet. Wir hatten bereits befreites Gebiet verlassen und waren direkt in die besetzte Stadt gekommen. Unmittelbar nach der Einnahme von Piešťany durch die Deutschen hatte die Jagt auf die Juden begonnen. Alle Gelben Karten und andere schützende Dokumente wurden für ungültig erklärt. Ein unmissverständlicher Befehl wurde herausgegeben: alle Juden der Slowakei sollten in die Todeslager geschickt werden.

Wir fürchteten sowohl die Deutschen als auch die slowakische Hlinka-Garde. Schon während unserer ersten Nach in Piešťany mussten wir uns verstecken, fanden jedoch keinen geeigneten Ort. Wir kamen in der Šererovastraße, in der meine Großmutter lebte, an. Ihre Nachbarn von gegenüber boten uns ihren Dachboden als vorläufigen Zufluchtsort an. Wir blieben zwei Nächte lang, unter unerträglichen Bedingungen. Der Raum war winzig und sehr niedrig. Wir konnten kaum hocken, gar nicht zu denken an aufrecht stehen. Vater durfte wegen seines Schnarchens nicht schlafen, und Mutter konnte nicht schlafen, weil sie ihn wachhalten musste, und wir alle fürchteten, dass man ihn hören könnte. Das war ein fürchterliches Erlebnis! Unsere Eltern beschlossen, dass wir uns aufteilen mussten, da es unmöglich schien, für eine vierköpfige Familie ein geeignetes Versteck zu finden. Wir trennten uns also.

Shmuel: Mutter und ich wurden auf die andere Seite des Flusses geschickt, um nach einem sicheren Platz bei Nichtjuden zu suchen. Wir liefen uns über einen Tag lang die Hacken ab, konnten aber einfach nichts finden. Wir hatten einfach nicht genügend Geld, um die Summen, die gefordert wurden, zu bezahlen. Unverrichteter Dinge kehrten wir nach Piešťany zurück. Obwohl wir uns des Risikos bewusst waren, blieben wir beisammen und trafen uns im Hause meiner Großmutter. Unsere einzige Sorge galt dem Überleben. Nach zwei Tagen gingen Mutter und ich zu einer Bekannten von ihr, Frau Quinter.

Später waren Frau Quinter und meine Mutter zusammen in einem Konzentrationslager in Deutschland. Sie wurde gemeinsam befreit und blieben auch später gute Freundinnen. Heute lebt Frau Quinter in Nove Mesto. Sie ist neunzig Jahre alt und wir telefonieren mit ihr von Zeit zu Zeit. Ihre Tochter Eva lebt in der Nähe von Prag.

Mutter und ich wurden von der Hlinka-Garde in Frau Quinters Wohnung verhaftet. Sie übergaben uns umgehend der Gestapo.

Alle gefassten Juden wurden eingehend verhört. Die Beamten der Gestapo versuchten über den Verbleib von Juden und ihren Besitz Informationen von der lokalen Bevölkerung zu erlangen. Unser Verhör dauerte nicht lange, da wir dem Untersuchungsbeamten nur sagten, dass wir aus dem Lager von Sered stammten und dass wir keine Verwanden in der Stadt hätten.

Dort sah ich zum ersten Mal in meinem Leben, wie Männer und Frauen gefoltert wurden. Die Gefolterten bluteten und spuckten ihre ausgeschlagenen Zähne aus, als sie aus dem Verhörraum kamen. Die Verhöre fanden meist in der Nacht statt, und man kann die ganze Prozedur nur als äußerst unmenschliche Misshandlung bezeichnen.

Zwei Tage später wurde uns mitgeteilt, dass wir nach Sered überstellt würden. Wir waren froh darüber. Verglichen mit dem, was wir in den Tagen zuvor erlebt hatten, erschien uns Sered wie ein Paradies. Zu dieser Zeit wussten wir aber nicht, dass sich die Verhältnisse in Sered in der Zwischenzeit völlig verändert hatten.

Naftali: Ich sollte meinen Vater im Hotel Termia in Piešťany treffen. Bevor ich dort ankam, erfuhr ich, dass Mutter und Shmuel verhaftet worden waren. Ich musste ihm die schlechte Nachricht überbringen. Als ich das tat, weinte er voll Verzweiflung: „Shma Israel! Shma Israel!“[1]

Vater und ich kehrten ins Haus meiner Großmutter zurück. Wir erfuhren, dass Shmuel seine besten Schuhe zur Reparatur zum Schuster gegeben hatte. Wir wussten aber auch, dass er gar keine anderen Schuhe besaß. Irgendwie fanden wir heraus in welchem Gefängnis Mutter und Shmuel festgehalten wurden. Wir holten seine Schuhe beim Schuster ab und versuchten sie Shmuel im Gefängnis zukommen zu lassen. Es war uns jedoch nicht möglich, mit einen der Inhaftierten direkt in Kontakt zu treten. Mutter und Shmuel waren drinnen und Vater und ich waren draußen, völlig hilflos. Der Kontakt war abgeschnitten und wir hatten keine Ahnung, was uns erwarten sollte.

Zwei Tage später schickte mich Vater in die Stadt. Als ich die Šererovastraße entlang ging, fuhr ein Lastwagen mit Männern von der Hlinka-Garde direkt auf mich zu. Instinktiv versteckte ich mich sofort hinter dem Eingangsstor des nächsten Gebäudes und wartete, was sie tun würden. Der LKW blieb vor dem Haus meiner Großmutter stehen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich zum Haus zurück laufen? Mich vielleicht verstecken oder einfach davon laufen? Ich wusste, dass Vater und Großmutter zu Hause waren. Ich überlegte immer noch, als ein Nichtjude von der anderen Straßenseite auf mich zeigte und schrie: „Da ist er! Er versucht sich zu verstecken!“ Sie fassten mich und hievten mich auf den Lastwagen. Ich hörte Schüsse, konnte aber nicht mehr erfassen, was da gerade passierte. Später erfuhr ich folgendes: Da Vater wusste, dass ich nicht im Haus war, sprang er über einen hohen Zaun und rannte in Richtung Bahnhof. Dieser befand sich fünf- oder sechshundert Meter vor ihm. Die Hlinka-Gardisten schossen ihm hinterher. Sie trafen ihn nicht.

Großmutter blieb im Haus und versteckte sich in einer Mehltruhe. Die Häscher fanden sie jedoch sehr schnell und zerrten sie – sie war voll Mehl und ganz weiß – auf die Straße und zu mir auf den LKW. Sie fuhren uns als erstes zur Polizeiwache und später ins Gefängnis. Ich hoffte, dort Mutter und Shmuel zu treffen, sie waren aber nicht mehr dort. Großmutter durchlitt das fürchterliche Procedere, das Shmuel bereits beschrieben hatte. Für mich waren diese Tage sehr traumatisch. Von einer Minute zur nächsten war ich alleine, ohne meine Eltern und ohne meinen Bruder Shmuel. Es war entsetzlich!

Wir wurden ebenfalls nach Sered gebracht. Wie zu erwarten, wurden wir auf direktem Wege in dieselbe Baracke, in der wir zuvor gelebt hatten, gebracht. Dort trafen wir Mutter und Shmuel.


[1] Das Shma Jisrael ist das erste Gebet, das ein jüdisches Kind lernt, es ist seit Jahrtausenden integraler Bestandteil des jüdischen Gottesdienstes und es sind die letzten Worte vieler jüdischer Märtyrer. Im Vergleich zu anderen Teilen des Gottesdienstes ist das Shma Jisrael kein Gebet im eigentlichen Wortsinn, sondern es ist vielmehr das jüdische Glaubensbekenntnis, im weitesten Sinne das Bekenntnis zum Judentum und nach Donin "Ausdruck jüdischer Überzeugung". (Donin, Chajim H.: Jüdisches Gebet heute, Israel 1986)